von Helen Bremm
Was zunächst aussieht wie eine Schnecke, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen und unter Einbezug des Titels als ein Pferdekopf mit Mähne und ein stark abstrahierter Rumpf. Wie im Kubismus üblich, brach der Künstler sein Motiv in geometrische Formen auf und versuchte, verschiedene Blickwinkel auf das Tier gleichzeitig darzustellen. Einflüsse des italienischen Futurismus finden sich im Thema der Fortbewegung und Geschwindigkeit und in der Mechanisierung des Pferdes. Die Gelenke des großen Tiers erinnern an Schrauben, die Querverbindung zwischen den Beinen an die Metallverstrebung an Eisenbahnrädern. Das Werk stellt die Mutation von Natur zu industrieller Maschine dar. Das Pferd gilt als Duchamp-Villons Meisterwerk.
Mit dieser Darstellung des Pferds spricht er aus seinem historischen Moment heraus. Er schuf Das Pferd in 1914 als er bereits als Arzt im Ersten Weltkrieg diente. Das Schaffungsjahr 1914 blieb in Erinnerung als das Jahr zwischen der Euphorie des industriellen und zivilen Fortschritts und den Schrecken und Grausamkeiten des ersten voll-mechanisierten und industrialisierten Krieges. Pferde waren bereits in der Landwirtschaft und in der Industrie durch Maschinen ersetzt, im Ersten Weltkrieg erwies sich auch die Kavallerie als altmodisch und wurde mit der Einführung von Panzern Geschichte.
Das Werk drückt gemischte Gefühle angesichts des Pferdes Verwandlung aus. Einerseits gestaltet Duchamp-Villon das Pferd mit starkem und massiven Rumpf, sich dynamisch und kraftvoll biegend, als majestätisches neues Maschinenwesen. Andererseits scheint es zugleich schmerzhaft gebeugt und verkrampft, der kleine Kopf gesenkt, der schwere Körper halb seitlich auf den Boden sinkend. Das Werk scheint den Betrachter angesichts des Ersten Weltkrieges zu fragen, ob die fortschreitende Industrialisierung und nun Technologisierung eine Verbesserung unserer Leben und Zivilisation oder doch den Untergang der Menschheit und allem Natürlichen.
Duchamp-Villon besuchte nie eine Kunsthochschule und brachte sich das Bildhauen selbst bei. Inspiriert wurde er dabei von seinen Brüdern Marcel Duchamp und Jaques Villon, die beide auch Künstler waren. Seine Teilnahme am 1905er und 1907er Salon d’Automne (Herbstsalon) in Paris etablierte ihn als einen Künstler der Avantgarde . Sein künstlerisches Schaffen wurde durch seinen Typhustod 1918 im Krieg abrupt beendet. Viele seiner Bronzen, so auch dieses Werk, wurden erst nach seinem Tod gegossen und machten ihn berühmt.
In unserem gegenwärtigen Kontext, in dem wir nun selbst als Menschen durch Prothesen, Implantate und andere Technologien immer mehr selbst zur Maschine werden, ist Raymond Duchamp-Villons Werk und die Hoffnungen und Ängste, die es ausdrückt, wieder hochrelevant.
© fotorechte: helen bremm
Raymond Duchamp-Villon - Le Cheval/Das Pferd
gegossen ca. 1930, 43,6 x 41 cm, Sammlung Peggy Guggenheim in Venedig