von Alexandra Tuschka
In einer kargen Landschaft beweinen Adam und Eva - die ersten Menschen - ihren Sohn Abel. Dieser wurde von seinem eigenen Bruder Kain erschlagen. Er ist bereits blass und blutleer und liegt schlaff im Schoße seines Vaters. Dieser ist jung und kräftig, hat dunkle Harre und Vollbart und widmet sich seiner Frau, welche in tiefster Trauer ihr Gesicht in ihren Händen vergräbt. Von dem Täter ist keine Spur. Nur die zwei Opferaltäre im Hintergrund verweisen auf die vorangegangene Episode.
Kain und Abel wollten Gott ein Opfer darbringen. Kain war Ackerbauer, Abel aber Viehhirte. Kain brachte die besten Früchte seines Feldes dar, Abel schlachtete ein feines Tier. Als beide die Feuer der Altäre entfachten, wurde nur Abels Opfer von Gott anerkannt. Kain, der in seiner Verzweiflung wütend wurde, wurde zwar von Gott gewarnt, aber der Neid übermannte ihn, so dass er seinen eigenen Bruder im Wahn erschlug. Daraufhin verfluchte Gott den Kain und gab ihm ein Erkennungsmerkmal für seine Schuld - das sogenannte "Kainsmal".
Diese Unterscheidung wurde von Künstlern häufig so gelöst, dass beide Altäre auf den Bildern zu sehen sind. Abels Feuer steigt dabei aus dem Bild nach oben, Kains Feuer weicht meist zur Seite aus. Damit drückten die Maler raffiniert aus, dass nur ein Opfer Gott "im Himmel" außerhalb unseres Bildgrundes erreicht. Auf diese Lösung greift auch Bougheareau zurück, indem er einen rechts sichtbaren Opferaltar zeigt, den anderen hinter Eva versteckt vermuten lässt. Ansonsten wirkt das Gemälde stark reduziert.
Vegetation finden wir kaum vor. Ein einsames Ästchen hat sich in das Bild gewagt, Andeutungen von Grün verschwimmen mit den Brauntönen und bleiben unauffällig. Dass keiner der Trauernden Blickkontakt zu uns aufnimmt, die in-sich-geschlossene Komposition, die Einheit der Farbigkeit auch in den Körpern - all das vermittelt ein andächtiges und intimes Bild, welches fast meditativ wirkt.
Die Ausbildung des Malers in der Akademie ist nicht zu verkennen. An Drehungen und Windungen in den Körpern mangelt es nicht. Auch die klare Komposition ist durchdacht. Einerseits strenge Horizontale, andererseits eine grobe Dreieckskomposition in der Mitte. Das Thema der "ersten Beweinung" ist nicht verbreitet und beginnt erst im späten 19. Jahrhundert an Beliebtheit zu gewinnen. Womöglich verarbeitet der Künstler hier auch die eigene Trauer - sein 2. Sohn starb kurz vor Entstehung dieses Werkes.
Das Bildthema erinnert unweigerlich an "Piéta"-Darstellungen, ist aber für die Kain und Abel Episode eine ungewöhnliche Wahl. Viel öfter finden wir den Mord an Abel in der Kunst wieder, der einen dramatischen und moralisch aufgeladenen Moment zeigt. Von der oft gezeigten Brutalität ist in diesem Bild nicht viel zu sehen. Der schöne Körper Abels zeigt sich auf den ersten Blick unversehrt. Nur der Blutfleck unter dem Kopf lässt auf die Bluttat schließen. Die dunkle Haut Adams hebt sich dabei deutlich von dem Elfenbeinton der beiden anderen ab. Diese Darstellung war bei der Unterscheidung zwischen Männern und Frauen im 19. Jahrhundert nicht unüblich.
William-Adolphe Bouguereau - The first mourning
Öl auf Leinwand, 1888, 203 x 250 cm, Museo National, Buenos Aires
Michiel Coxie - Der tote Abel
Öl auf Leinwand, um 1540, Museo del Prado, Madrid