von Frauke Maria Petry
“Lasst Blumen sprechen” sagte Joseph Beuys einst. Vincent van Gogh hat es ihm vorgemacht und war damit nicht der erste!
Auf der Leinwand im Querformat von 73,5 x 92 cm verzweigen sich knorpelige Äste. Ihre Spitzen werden von zarten Blüten gesäumt. Das Geflecht hebt sich vom Hintergrund sowohl farblich als auch haptisch ab: Bei näherem Betrachten wird trotz der eingeschränkten Gesamtpalette ein Reichtum unterschiedlicher Blautöne deutlich, was dem Farbspektrum eines sommerlichen Himmels gleichkommt. Die weißen Blüten und Knospen weisen Gelb- Rosa- oder Rotakzente auf. Die hellen Farben kontrastieren mit den intensiven Blautönen. Doch die grau-grünen Zweige scheinen an ihren feinen Enden teils in den Hintergrund abzutauchen. Der pastose Farbauftrag gibt den Zweigen und Blüten Kontur; auch der Himmel setzt sich aus mehreren dickflüssigen Pinselstrichen zusammen. Durch Umrisslinien der Äste wird das Motiv eindeutig vom Hintergrund abgegrenzt. Das Blütengeschehen wird an den Bildrändern angeschnitten und scheint seinen Ursprung am unteren Bildrand zu nehmen. Das Ölgemälde entspricht der Detailaufnahme eines aufkeimenden Mandelbaums.
Vincent van Gogh fertigte „Blühende Mandelbaumzweige“ 1890 in Saint-Rémy als Geschenk für seinen neugeborenen Neffen. Der Sohn des Bruders Theodor und dessen Ehefrau Joanna Bonger wurde am 31. Januar gleichen Jahres geboren. Als der Künstler erfuhr, dass das Kind nach ihm, nämlich Vincent Willem van Gogh, benannt würde, machte er sich augenblicklich an das Kunstwerk. In einem Brief an Theo schrieb er: „Die letzte Leinwand der blühenden Zweige – Du wirst sehen, dass es vielleicht die beste, die geduldigste Arbeit ist, die ich je gemacht habe, gemalt mit Ruhe und größerer Entschlossenheit. Und am nächsten Tag, niedergeschlagen wie ein Unmensch.“
Trotz seiner Berühmtheit ist das Geschenk nicht die erste oder einzige bildhafte Fixierung eines Mandelzweiges durch die Hand des Niederländers. Schon im Frühjahr 1888, gleich nach Ankunft in Arles, malte der Künstler innerhalb eines Monats 14 Bilder von Obstbäumen. Wegen unerwarteter Schneefälle schnitt van Gogh die Zweige erster blühender Mandelbäume ab, um sie als Stillleben festzuhalten. „Blühende Mandelbaumzweige im Glas“ existiert in mehreren Fassungen. Aufgrund der Motivwahl werden alle Gemälde als Serie namens „Mandelblüten“ zusammengefasst.
In den Varianten trifft die leichte, gebrochene Pinselführung der Impressionisten auf die Farbkleckse des Divisionismus. Der Einsatz der Konturlinie sowie die Wahl der Perspektiven und floralen Motive gehen jedoch auf japanische Traditionen zurück: Die Anordnung im Stillleben erinnert an ikebana, eine besondere Technik des Blumenarrangements. Das Anschneiden des Bildmotivs bei „Blühender Mandelbaumzweig“ geht auf die Ukiyo-e Drucke zurück. Vincent van Gogh hatte mehrere japanische Holzschnitt-Drucke gesammelt, darunter ebenfalls Blütenstudien. Diese könnten als Inspirationsquelle gedient haben. So macht es beim Betrachten von „Blühender Mandelbaumzwei“ den Anschein, als würde man von unten in die Baumkrone und den Himmel schauen. Die Komposition ist einzigartig im Werk des Niederländers.
So außergewöhnlich die Perspektive, so treffend auch die Motivwahl: Die aufkeimenden Blüten an den noch Winterstarren Ästen künden das Frühlingserwachen an und stehen symbolisch für den Anbruch eines neuen Lebens. Die Verzweigungen der Äste, welche aus der Mitte des unteren Bildrandes hervorragen, lassen ebenso die Assoziation eines Stammbaums zu. Ein passenderes Geschenk hätte van Gogh seinem Neffen folglich nicht machen können.
Wie der Künstler schrieb, kostete ihn die Arbeit am Gemälde viel Kraft. Unmittelbar nach Fertigstellung dieses letzten Bildes aus Saint-Rémy hatte der Künstler einen erneuten Anfall, der mit zwei Monaten am längsten währte. Kurze Zeit später nahm er sich das Leben. Doch die Botschaft seines Gemäldes hatte die Familie erreicht: Das Bild wurde nie verkauft und hing lange in den Privaträumen der Nachfahren van Goghs. Sein Neffe und Namensträger Vincent Willem gründete später das Van Gogh Museum in Amsterdam, wo die Blumen der „Blühenden Mandelzweige“ seit 1994 zu allen Menschen sprechen.
Vincent van Gogh - Blühende Mandelbaumzweige
Saint-Rémy, Februar 1890, Öl auf Leinwand, 73,5 x 92 cm, Amsterdam, Van Gogh Museum (Vincent van Gogh Stiftung)
Ando Hiroshige - Suigin Grove und Masaki am Sumida-Fluss, von Einhundert Ansichten von Edo
Holzschnitt, Tokyo, 1856