von Sylvi Weidlich
Wir blicken auf einen alten Mann, der seine Hände gefaltet hält, die Mundwinkel vor Gram tief nach unten verzogen und die Kapuze weit über die Augen gezogen hat. Sein schwerer, tiefdunkler Mantel, in dem seine ganze Trauer und die Enttäuschung über die Ungerechtigkeiten der Welt festzuhängen scheinen, hängt schwer an ihm. Hätte er keine Schuhe an, würde er sich an Dornen, die seinen Weg ebnen, schmerzhaft verletzen.
Om dat de werelt is soe ongetru / Daer om gha ic in den ru
„Weil die Welt so treulos ist, trage ich Trauer“, gibt die Inschrift am unteren Bildrand preis. Und während dieser vor Gram gebeugte langsam aus dem Bild, einem kreisrunden Tondo, schreitet, wird er auch noch beklaut. Niemand Geringeres als die Welt selbst greift ihm in die Taschen. Barfuß, mit wachem Blick und zerrissenen Hosen an den Knien, entledigt die Allegorie den Trübsinnigen seines Geldsackes, der die Farbe und Form eines – seines? – Herzens hat.
Während wir zentral den gerade bestohlenen „Menschenhasser“ sehen, schauen wir im hinteren Bildteil auf eine typisch holländische Szene: Seine Herde um einige weltliche schwarze Schafe ergänzt, stützt sich ein Bauer zufrieden auf seinen Hirtenstab, während um ihn herum sein Vieh in Ruhe grast. Auch die obligatorische Windmühle fehlt nicht.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Wahl des runden Bildformates, das an das Tondo Doni von Michelangelo Buonarroti und die Darstellung der Heiligen Familie erinnert. Bei Michelangelo weisen die Figuren im Hintergrund auf die Vergänglichkeit des Lebens hin. Brueghel stellt mit der Wahl des Rundformates seine Haupthandlung eines Menschenhassers, der seinen von Dornen gespickten Weg weiter beschreiten will, in den Mittelpunkt. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten und vom Offensichtlichen ablenkend, dreht sich die Erde im Hintergrund dennoch unbeirrt weiter – mit all ihrer Schönheit, Natürlichkeit und Zufriedenheit.
Pieter Bruegel d. Ä. - Der Misanthrop
Tempera auf Leinwand, 1568, 86 x 85 cm, Museo Nazionale di Capodimonte in Neapel