von Alexandra Tuschka
Oh ja, das können wir gut verstehen, dass Daniel hier ein Stoßgebet gen Himmel richtet. Wie auch immer er in dieser Löwengrube gelandet ist - angsteinflößend sind die fast lebensgroßen Löwen auf dieser immensen Leinwand von 224 x 330 cm allemal. Zehn an der Zahl haben sich hier zusammengefunden (einer im linken Bildteil ist jedoch schwer zu entdecken). Ein Schädel und menschliche Knochen zeugen von der Gefährlichkeit der Tiere. Die Gesichtsausdrücke der Löwen reichen von müde und gähnend über entspannt und dösend zu absolut furchteinflößend. Wir Betrachter sind sehr nah an die Szene herangerückt, so, dass wir fast das Gefühl bekommen, einige der Löwen würden uns entdecken und anfauchen. Peter Paul Rubens studierte die Löwen in der königlichen Menagerie in Brüssel, so dass der realistische Eindruck der Wildkatzen auf sein gründliches Studium zurückzuführen ist. Zahlreiche Skizzen sind uns erhalten geblieben.
Die hier abgebildete Geschichte findet sich in der Bibel und dort - wie soll es anders sein? - im Buch Daniel. Das Kapitel 6 beschreibt, dass der persische König Dareios I. den Hebräer Daniel sehr schätzte und ihm nach und nach mehr Aufgaben übertrug. Dies rief auch machtvolle Neider auf den Plan, die den König zu einem Gesetz drängten, nach welchem in den nächsten 30 Tagen nur dieser angebetet werden durfte. Daniel ließ sich nicht von seinem Glauben und seinen Gebetsritualen abbringen, so dass er zur Strafe in eine Löwengrube gesperrt wurde. Diese wurde über Nacht mit einem Felsblock verschlossen. Trotz großer Achtung und Sorge setzte der König diese Strafe auf Drängen der anderen Männer durch.
20 Früh am Morgen, als der Tag anbrach, stand der König auf und ging eilends zur Löwengrube.
21 Und als er zur Grube kam, rief er Daniel mit angstvoller Stimme.
Und der König sprach zu Daniel: Daniel, du Knecht des lebendigen Gottes, hat dich dein Gott, dem du
ohne Unterlass dienst, auch erretten können von den Löwen?
22 Daniel aber redete mit dem König: Der König lebe ewig!
Die Szene ist hier zu sehen, den gut erkennbar ist der Fels bereits wieder zur Seite geschoben worden und das Tageslicht fällt auf die Szene. So fanden also die Männer den lebendigen Daniel vor, der von einem Engel berichtete, der den Löwen das Maul zugehalten hatte. Daraufhin wurden die Männer, die Daniel bestrafen wollten, vom König mitsamt ihrer Familien in die Grube geworfen und zerfleischt.
Somit ist diese Geschichte eine Mahnung an die Gläubigen, am unerschütterlichen Glauben festzuhalten und auf Gott zu vertrauen, selbst in den schlimmsten Lebenssituationen und in Angesicht mächtiger Feinden. Die Körperhaltung unseres Protagonisten drückt aus, dass womöglich der ein oder andere Zweifel am Ausgang der Situation herrscht. Das macht ihn für uns als Betrachter nahbarer. Auch verjüngt Rubens den - nach der Bibel - über 80-jährigen Daniel und steigert die Drastik der Szene, in welchem ein so junges Leben ein jähes Ende nehmen könnte.
Mit dieser Geschichte ist Daniel ein Vorbote Jesu, dessen Auferstehung aus dem Grab der hier gezeigten Szene thematisch ähnlich ist. Der Schädel vorne dient der Realitätssteigerung, ist aber zudem ein Verweis auf den Berg Golgatha, der manchmal mit einem Schädel und Knochen symbolisiert wird.
Dieses Gemälde genoss noch zu Lebzeiten des Malers eine äußerste Beachtung, so dass Rubens es mitsamt einiger anderer seiner Werke gegen 80 klassische Skulpturen eintauschte. Rubens hatte sich durch sein Können bereits als junger Mann Zugang zur gesellschaftlichen Oberschicht verschaffen können. Es war nicht ungewöhnlich, dass bedeutende Personen auch eigene, umfassende Kunstsammlungen besaßen.
Peter Paul Rubens - Daniel in der Löwengrube
Öl auf Leinwand, ca. 1614/16, 224,2 x 330,5 cm, National Gallery of Art, Washington
Peter Paul Rubens - Der auferstandene Christus
Öl auf Leinwand, 1615, Privatsammlung
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