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Leonardo da Vini - Der Vitruvianische Mensch

von Frauke Maria Petry


Schon Mal vom Affenindex gehört? Als solcher wird das Verhältnis vom Abstand ausgestreckter Arme (an den Endpunkten der Mittelfinger gemessen) zur Körpergröße bezeichnet. Vor allem der Klettersport bedient sich dieser Korellationsziffer, während im Volksmund das Gerücht kursiert, die Körperspanne wäre identisch mit der Größe eines Menschen – eine Annahme, die bereits Leonardo da Vinci (1452–1519) traf. Ausgangspunkt ist seine weltberühmte Zeichnung „Der vitruvianische Mensch“:


Auf einem 24,5 x 43,3 cm großen Blatt Papier wird eine monochrome Zeichnung am oberen und unteren Rand von Text umrahmt. Die Schrift ist spiegelverkehrt von rechts nach links angeordnet. In der oberen rechten Ecke steht eine Ziffer, in der unteren rechten Ecke findet sich die Signatur Leonardo da Vinics. Alles wurde mit Tusche festgehalten und zeigt wegen des empfindlichen Materials Verfallsspuren an der Oberfläche.

Die Zeichnung basiert auf einem menschlichen Körper, welcher zentral in einem Rechteck und einem Kreis angeordnet ist. Die geometrischen Formen teilen sich die untere Linie, auf der sie aufzuliegen scheinen. Die Vertikalen des Quadrats schneiden den Kreis und liegen so in seinem Inneren. Die oberen Ecken überlappen die Linie des Kreises geringfügig im oberen Viertel.

Darin befinden sich die ausgestreckten, seitlich angeordneten Hände des Menschen, der zentral auf der vertikalen Mittelachse der geometrischen Formen angeordnet ist. An seinem Kopfende liegt die obere Horizontale des Quadrats auf. Der muskulöse Mann mit Schulter langem Haar blickt mit starrem Gesichtsausdruck frontal auf die Betrachtenden. Seine Arme wiederholen sich in einem ca. 30 Grad Winkel nach unten. Die Schultern werden von Hilfslinien durchzogen. Ebenso verhält es sich bei der Brust, der Hüfte und den Knien, welche jeweils von einer horizontalen Mittelachse gekennzeichnet sind. Die unteren Arme sind an den Gelenken mittels Vertikalen markiert.


Auch die Beine finden sich in doppelter Ausführung: Das äußere Paar folgt der Linie des Kreises und setzt auf dieser auf. Beide Beine sind in einem ca. 45 Grad Winkel von der Mittelachse ausgestreckt. Während der rechte Fuß in zweifacher Ausführung jeweils nach vorne gerichtet ist, ist der linke Fuß jeweils nach außen abgewinkelt. Dies hat eine Hüftstellung und Beindrehung nach Links zu Folge. Unter der Zeichnung befindet sich eine Linie entsprechend der Breite des Rechtecks. An beiden Enden sind Markierungen und Beschriftungen. Sie begleiten den Mann mit doppelten Extremitätspaaren wie eine Art Lineal mit eigens festgelegten Maßeinheiten.


Leonardo da Vincis „Vitruvianischer Mensch“ befindet sich seit 1822 in der Galleria dell’Accademia in Venedig und erfuhr spätestens 1939 in der Mailänder Ausstellung zu Ehren des Italieners internationale Bekanntheit. Es reiht sich mit seiner Entstehung 1490 vor die beiden anderen bekannten Werke des Künstlers: Das letzte Abendmahl (1495–1498) und die Mona Lisa (1503). Heute findet sich das Motiv des Vitruvianischen Menschen auf zahlreichen Massenprodukten, wird vorzugsweise von Krankenversicherungen sowie Heilkundepraxen genutzt und schmückt die Rückseite der italienischen 1-Euro-Münze.


Wie der Name „Le proporzioni del corpo umano secondo Vitruvi“ verrät, handelt es sich bei der Tuschezeichnung mit Notizen um eine Studie der „Proportionen des menschlichen Körpers nach Vitruv“. Marcus Vitruvius Pollio (80/70–10 v. Chr.) war ein römischer Architekt, der sich in seinen 10 Büchern „De Architectura“ nicht nur den ideellen Proportionen der Architektur, sondern ebenso des menschlichen Körpers (Buch III, Kapitel 1) widmete. Dabei war er mit der Vorstellung, die menschlichen Proportionen in ein mathematisches System aus Verhältnissen zu bringen, nicht der erste. Die bildende Kunst beruft sich seit jeher auf einen sogenannten Kanon, welchen bereits die Alten Ägypter mit einem Raster aus 18 Feldern aufstellten. Auch im klassischen Griechenland war man überzeugt, dass die Schönheit der Körpermaße vor allem im Verhältnis der Körperteile zueinander lag. Da die klassischen Ideale der griechischen und römischen Kultur in der Renaissance vor allem unter der philosophischen und intellektuellen Bewegung des Humanismus wieder aufblühten, nutzen einige Künstler die Schriften Vitruvs als Versuchsvorlagen, um eine perfekte Verbindung zwischen Mathematik und Kunst zu erreichen.


Doch neben seinen Zeitgenossen und Kollegen Francesco di Giorgio Martini (1439–1502) und Giacomo Andrea de Ferrara (k.A.) gelang einzig Leonardo da Vinci eine Darstellung, welche den gesamten Menschen in einer harmonischen Ausführung und anatomisch nachvollziehbar in Quadrat und Kreis einfügt. Dabei folgte der Künstler nicht allen Aufzeichnungen Vitruvs, verschob zum Beispiel den Mittelpunkt: während der Zirkel beim „homo ad circulum“ genau im Nabel ansetzt, befindet sich das Zentrum des „Homo ad quadratum“ auf Höhe der Leiste des Mannes. Es kann davon ausgegangen werden, dass Leonardo ebenso die Ergebnisse seiner Vermessungen der Anatomie junger Männer (1489/90) in die Studie einfließen ließ. Bemerkenswert ist dabei, dass sich anhand des Lösungsvorschlags da Vincis ein eleganter Algorithmus zur annähernden Kreisquadratur ableiten lässt. Zudem entspricht das Verhältnis des Quadrates zum Radius des Kreises mit einer minimalen Abweichung von 1,7 % dem Goldenen Schnitt. Daher spricht man auch vom „Menschen im Goldenen Schnitt“. Um diese Geniemanifestierung ad absurdum zu führen, ergaben wissenschaftliche Experimente an Männern, dass etwa 10 % der Proportionen der Testpersonen den Maßen des vitruvianischen Mannes da Vincis entsprachen.


In der individuellen Randnotiz und für ihn typischen Schriftform hält der Künstler die Proportionsverhältnisse fest und merkt an: „Die Länge der ausgespreizten Arme eines Mannes entspricht seiner Größe“. Er geht von vier Fingern für eine Handfläche aus, vier Handflächen würden einem Fuß, sechs einer Elle entsprechen, vier Ellen wiederum in eine Armspanne passen. Obwohl mittlerweile Quellen anzweifeln, dass da Vinci tatsächlich das dritte Buch Vitruvs gelesen haben könnte (Francesco di Giorgio Martini übersetzte dieses erst 1490 ins Italienische, doch Leonardo lernte den Architekten auf einer Reise kennen), sind die Maß-Verhältnisse fast deckungsgleich. Der Vitruvianische Mensch ist Symbol für Symmetrie, Schönheit und Körperbewusstsein. Durch die absoluten Formen von Quadrat und Kreis, zitiert Leonardo die Zeichen des Mittelalters für Erde und Himmel. Mit Feder, Tusche und Metallspitz wurde hier in der Manier des Rinascimentos die Verbindung von Micro- und Makrokosmos, Mensch und Universum festgehalten.


Entsprechend der idealisierten, mathematischen Proportionsstudie ist die Ausführung der Tuschezeichnung im Vergleich zu anderen Studienblättern des Künstlers ungewöhnlich sauber gezeichnet und ausgestaltet. Das Körperbilder erhält durch Schattierungen und Kreuzschraffur im Hintergrund eine Tiefe und Dreidimensionalität. Der Historiker Toby Lester geht davon aus, dass das Gesicht des Vitruvianischen Mannes ein idealisiertes Selbstporträt Leonardos sei (Da Vinci’s Ghost, 2012). Dieses Selbstbewusstsein zeugt von der Überzeugung des eigenen Genies. Dann sollte der Italiener aber doch auch geahnt haben, dass

es ein einheitliches Konzept des Menschen überhaupt nicht geben kann und eine Idealvorstellung nie einer allgemein gültigen Wahrheit entsprechen kann.


Leonardo da Vinci - der Vitruvianische Mensch

ca. 1490, Zeichnung (Tusche auf Papier), 24.5 x 34.3 cm, Gallerie dell’Accademia, Venedig, Italien


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