von Alexandra Tuschka
Vier Personen haben sich im Schutze einer Felsengrotte auf dem Boden versammelt. Die Dame in der Mitte, Mutter Maria, ist am höchsten angeordnet und bildet ebenso die Spitze der pyramidalen Kompositionsform. Links und rechts von ihr befinden sich zwei Kleinkinder, von denen eines behutsam von einem Engel gestützt wird.
Gewissermaßen hat sich die Personengruppe um einen leeren Raum in ihrer Mitte angeordnet. Die Blickrichtung des Betrachters springt zwischen den Augen und Händen der vier Personen hin und her. Das linke Kind hat die Hände zum Gebet verschlossen, das rechte eine Hand zum Segensgestus geformt. Der Engel deutet mit seinem ausgestreckten Finger auf sein Gegenüber und Mutter Maria vereint beide Seiten, indem sie mit ihrer offenen Körperhaltung die Kinder einander zuzuführen scheint. Ihr Blick ist dabei andächtig gesenkt. Sie sitzt, wie alle anderen, auf dem Boden und ist somit an den Typus der „Madonna dell‘ humilita“ angelehnt – der „Madonna der Demut“. Nur der Engel nimmt direkten Blickkontakt mit uns auf und fungiert so als Vermittler. Auf Heiligenscheine wurde, wie zu der Zeit langsam üblich wurde, verzichtet.
Recht einstimmig nimmt man an, dass hier auf eine Szene einer apokryphen Quelle – dem Protoevangelium des Jakobus - angespielt wird, nach welcher Johannes der Täufer als Kind von dem Engel Uriel begleitet wird, um ihn vor dem Kindermord Herodes zu schützen. Jesus und seine Familie waren zu dieser Zeit bekanntlich auf der Flucht nach Ägypten. Währenddessen sollen sich alle begegnet sein. Wer der Jungen ist aber nun welcher Heilige? Ist Jesus, wie man erwarten sollte, der etwas Größere, der höher angeordnete, der sich zudem näher an seiner Mutter befindet? Und ist Johannes, der Jesus taufen und damit auch „segnen“ wird, das Kind näher am Engel Uriel? Man darf doch erwarten, dass der Erzengel auf den Heiland zeigt und nicht etwa auf den Drittwichtigsten im Bild? Eine zweite Version des Gemäldes zeigt, dass diese plausiblen Schlussfolgerungen von da Vinci nicht angelegt waren. Jesus ist der Knabe rechts und folglich befindet sich der Johannesknabe links im Bild.
Die Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis waren nachgewiesenermaßen die Auftraggeber des Werkes, der Vertrag zwischen ihnen und dem Künstler ist bis heute erhalten. Dennoch ist die Geschichte der beiden Gemälde nicht eindeutig geklärt. Es wird vermutet, dass die eben angesprochenen Aspekte der Bruderschaft bitter aufstießen - Die Verwechslungsgefahr der beiden Kinder, die Größe des Johannesknaben und dessen Platz neben Maria irritierte die Sehgewohnheit und die religiöse Aussage. Womöglich entstand deshalb eine zweite, abgeänderte Version. Ursprünglich sollte das Werk den Mittelteil eines Polyptychons schmücken, wurde dort vermutlich aber nie aufgegangen. Dort hätte es die Funktion eines „Deckelbildes“ eingenommen, was das eigentliche Kultbild verbarg. In diesem Fall war das eine Madonnenfigur, die nicht mehr erhalten ist. Viele Hinweise deuten darauf hin, dass die erste Version bereits kurz nach seinem Entstehen von Ludwig XII. erworben wurde, und befindet sich bis heute im Louvre. Eine andere Überlieferung erzählt, dass die Bruderschaft Leonardo für die erste Version nicht ausreichend bezahlte, weshalb er dieses anderweitig verkaufte, sich für die zweite Version 20 Jahre Zeit nahm und sie von seinem Schüler Ambrogio de Predis fortführen ließ. Als Indiz für die fremde Hand werden dabei immer wieder die Pflanzen und Naturelemente der 2. Version erwähnt, welche die Präzision und wissenschaftliche Detailtreue eines Da Vinics vermissen lassen.
In zweiten Werk bleibt die Umgebung ihrer Vorgängerversion treu, innerhalb der Personengruppe jedoch haben kleine, aber bemerkenswerte Veränderungen stattgefunden: der Johannesknabe wurde durch sein Attribut – den Kreuzstab – und ein nur dunkel erkennbares Band mit der Aufschrift „„Ecce A/GNIVS““ recht eindeutig identifizierbar gemacht. Er erhält somit in der Szene seinen Segen von Jesus. Die prominente Zeigegeste des Engels wurde kurzerhand herausgenommen. Auch hat er wohl keine Lust mehr, mit uns Kontakt aufzunehmen und schaut stattdessen verträumt zum anderen Bildteil herüber. Alle außer ihm haben einen Heiligenschein hinzugefügt bekommen.
Wieso traf Leonardo die Wahl, die Personen in einer Felsgrotte darzustellen? Einerseits zeigt sich hier seine fanatische Leidenschaft für die Natur und deren Studium. Freilich kann man interpretieren, dass die erkennbaren Pflanzen dabei auch symbolischen Charakter haben. Der hochgiftige Eisenhut könnte auf das bevorstehende Schicksal der Kinder verweisen und die Iris assoziierte man mit dem Bund Gottes mit dem Menschen. Auch wirkt das bewusste Zusammenführen der beiden Kinder mithilfe der anderen Personen wie eine „Fügung“. Maria könnte somit ihre völlige Hingabe zum größeren Plan ausdrücken. In dieser entrückten und geschützten Naturlandschaft fügen sich die Personen ein und erleben einen Moment der Andacht. Der Abgrund im vorderen Bildgrund wird manchmal als Verbildlichung des drohenden Schicksals interpretiert und das stille, unbewegte Wasser könnte auch auf die unbefleckte Empfängnis anspielen. Zudem wird damit natürlich die Taufe durch Johannes vorausgeahnt.
Auch im Hintergrund zeigt sich Leonardos Genie. Die Perspektive weist nach hinten eine deutliche Verblauung und zunehmende Unschärfe auf. Beides Stilmittel, um viel Tiefenraum zu erzielen und welche im Mittelalter nicht bekannt waren. In der ersten Version wirkt der tiefenräumliche Ausblick natürlich und homogen. Nicht zuletzt dadurch zeigt sich ein gewisser qualitativer Unterschied zwischen beiden Versionen, der dazu führte, dass die erste Version bis heute mehr Aufmerksamkeit genießt.
Leonardo da Vinci - Die Felsgrottenmadonna
Öl auf Leinwand, zwischen 1483 - 1486, 199 cm × 122 cm, Musée du Louvre in Paris
Version 2: Öl auf Holz, zwischen 1493 — 1508, 189,5 x 120 cm, National Gallery, London