von Alexandra Tuschka
Frisch spritzt das Blut des Opfertieres auf den Boden, welches Odysseus hier mit einem gezielten Schlag getötet hat. Das Blut fließt soeben in eine Grube, in welcher sich bereits Honig, Wasser und Milch befinden. Odysseus Körperhaltung verrät, dass er von der unheimlichen Gestalt, die nun den Bildraum imposant einnimmt, überrascht worden ist. Dies ist der blinde Seher Teiresias, bestraft durch Hera, die zusammen mit ihrem Mann Zeus dem Seher eine Antwort abverlangte, bei der er eine Partei kränken musste.

Denn Teiresias war die einzige Person, die eine Zeit lang in einem weiblichen und dann wieder in einem männlichen Körper gelebt hatte. "Wer von beiden empfindet mehr Lust?" wollten die beiden Götter von ihm wissen. Dieser unterstützte Zeus Meinung und meinte, von zehn Teilen der Lust würden Männer nur einen genießen, Frauen aber neun. Die gekränkte Hera ließ ihn daraufhin erblinden. Zum Trost aber gab Zeus ihm die Fähigkeit des Sehers und neun Leben. Diese sind nun allesamt vorbei, in unserem Werk befinden wir uns in der Unterwelt und Teiresias ist bereits tot. Odysseus hingegen ist quicklebendig. Das Opfertier war ein nötiges Ritual, um die Tore des Hades zu öffnen. Ihm wurde gesagt, dass der Seher Teiresias ihm bei seiner Heimfahrt helfen könne und die sogenannte "Odyssee" beenden.
Füssli lässt den Seher hier in sehr typenhafte auftreten, mit langem Bart, goldenem Stab, einer Zeigegeste und umhüllt von wolkenartigen Gestalten, die ihn wie ein Nebel umgeben. Freilich sind dies die toten Seelen. Die mystische Ausstrahlung des Sehers und sein dramatischer Auftritt sind gut getroffen. In recht monochromen Farben setzt er sich von dem farbintensiveren Lebenden ab. Auch die erhöhte und stehende Körperhaltung macht die Machtverhältnisse hier schnell klar. Tatsächlich gibt der Seher Odysseus die ersehnten Ratschläge, wenngleich dessen Mannschaft diesen später nicht folgen sollten.

Seit den 1760ern ist die Beschäftigung mit der griechischen Mythologie des "wild Swiss", wie Malerkollegen Füssli nannten, nachvollziehbar. "Die Odyssee", die Irrfahrten des Odysseus, waren dabei von besonderem Interesse und wurden in allerhand Werken umgesetzt. Dabei haben Füsslis Zeichnungen, wie auch diese, oft den Charakter der Illustration, da sie nur leicht koloriert wurden. Das hier gewählte Bildthema ist äußerst selten in der Kunst. Später, zwischen 1774 - 1778 hielt sich Füssli in Rom auf und studierte viele klassische Werke. In diese Zeit wird auch die erste Konzeption für dieses Werk gedeutet. Füssli hielt sich bei seiner Umsetzung aber recht streng an den Ursprungstext des griechischen Dichters Homer. In diesem Werk, anders als bei seiner ersten Konzeption, verzichtete Füssli auf die Einfügung Odysseus Mutter, welche ihm noch vor der Begegnung mit dem Seher erscheint. Dies reduziert das Geschehen gekonnt und steigert die Dramatik.
Johann Heinrich Füssli - Teiresias sagt Odysseus die Zukunft voraus
Schwarze und graue Tinte und Aquarell, Kreise, Stifte, , ca. 1780, Albertina, Wien
Johann Heinrich Füssli - Teiresias sagt Odysseus die Zukunft voraus
Schwarze und graue Tinte und Aquarell, Kreise, Stifte, , veröffentlicht als Kupferstich 1804, 91,0 x 77,8 cm, National Museum, Cardiff