von Thyra Guenther-Lübbers
Nah und doch so fern. Durch ihre Nacktheit und die Nähe des Körpers zum Bildrand wirkt die Odaliske, was so viel wie "Haremsdienerin" bedeutet, dem Betrachter ganz nah. Auf der anderen Seite wirkt ihr kühler Blick und die Schönheit ihrer gesamten Erscheinung der Welt des Betrachters entrückt. Sie wendet ihren nackten Körper vom Betrachter ab und auch die Stoffe, Kissen und Draperien, die diesen mit ihren kalten blau- und silberfarbenen Tönen umgeben sowie der dunkle, unscharfe Hintergrund schaffen Abstand. In dem Bild scheint kein Funken Wärme zu sein. Ihr Blick, obwohl wir eine Haremsdienerin, wenn nicht sogar Sklavin vor uns sehen, hat etwas Gebieterisches. Der reich verzierte Pfauenfächer, ihr Turban sowie der Weihrauchkessel, nebst Opium-Pfeife lassen eine Verortung in den Orient zu.
Der Betrachter möchte vollkommene Schönheit in der jungen Frau sehen, und doch sind ihre Körperproportionen völlig verzerrt, ihre Pose gezwungen-unnatürlich. Ihr Rücken ist überlängt, ebenso wie ihr rechter Arm, der obendrein keinen Ellenbogen zu haben scheint. Und auch die Position ihres linken Beines ließe sich nicht lange auf diese Art und Weise halten. Dies sah auch die Jury des Pariser Kunstsalon, in dem das Werk im Jahre 1819 ausgestellt war, so und versah es mit scharfer Kritik. Dabei wurde völlig die eigentliche Intention des Künstlers übergangen. Ingres, der, ganz Kind seiner Zeit, ein großer Anhänger des Klassizismus war, zielte nicht auf eine naturalistische Wiedergabe ab, viel mehr sollte die Anatomie hier der gefälligeren und sinnlichen Linie folgen. Die Linie dominiert folglich Farbe und Komposition . So lassen sich also der einzig durch eine lange geschwungene Linie dargestellte Rücken, der überlängte Arm und die breiten Hüften der Odaliske erklären. Obwohl die Verzerrung dem Bild etwas Bizarres verleiht, umgibt die junge Frau auch etwas Geheimnisvolles und vor allem Sinnliches, was auch von der atmosphärischen Lichtführung aus einer dem Betrachter verborgen bleibenden Quelle am linken Bildrand, herrührt.
Neben dem Sehsinn fordert Ingres aber auch den Tast- sowie den Geruchssinn des Betrachters heraus. Die Haptik der verschiedenen Stoffe wie Samt oder Seide, und auch die Oberflächen der Pfauenfedern ist so detailgetreu wiedergegeben, dass der Betrachter beim bloßen Anblick dieser glaubt sie zwischen seinen Fingern dahingleiten zu spüren. Ähnlich verhält es sich mit dem Weihrauchkessel, aus dem Rauchschwaden emporwabern. Als Betrachter wähnt man sich fast selbst im Genuss des berauschenden Rauches. Indem Ingres verschiedene Sinne beim Betrachter wachruft, lässt er ihn Assoziationen entwickeln. Man glaubte der trägen, erotisch aufgeladenen Atmosphäre des Harems ein Stück näherzukommen und doch jagte man, als zumeist männlicher, französischer Betrachter des frühen 19. Jahrhunderts, nur einer Fantasie nach. Paradoxerweise entsprang dieses Werk aber ebenfalls lediglich der Fantasie-Welt des Künstlers, denn dieser ist nie im Orient gewesen. Und auch wenn er dort gewesen wäre, was durch Napoleons Ägyptenfeldzüge, die den Orientalismus in der französischen Bildwelt überhaupt erst begründeten, nicht abwegig gewesen wäre, wäre es ihm doch verwehrt geblieben einen Harem zu betreten.
Der Harem beziehungsweise Haremsdamen sollten für die gesamte Bewegung des Orientalismus, die vor allem bei französischen und britischen Künstlern Anklang fand, das beliebteste Sujet bleiben, gerade weil sich darum so viele Sagen rankten und der Fantasie, was dort hinter verschlossenen Toren Atemberaubendes vor sich ging, keine Grenzen gesetzt waren. Durch den Orientalismus lösten die Haremsdamen die weiblichen Figuren der griechischen Mythologie als Personal der Akt -Werke ab. Durch die Personifizierung als eine solche Dame wurde die Darstellung des nackten weiblichen Körpers in einen anderen Kulturkreis verlagert und der westliche (männliche) Betrachter konnte sich, moralisch unbedenklich, an diesem erfreuen.
Jean-Auguste-Dominique Ingres - Die große Odaliske
Öl auf Leinwand, 1814, 91 x 162 cm, Musée du Louvre in Paris