von Thyra Guenther-Lübbers
Vor uns sehen wir einen für Johannes Vermeer eher ungewöhnliches Bildthema. Das kleine Œvre des autodidaktischen Malers weist sonst überwiegend weibliche Figuren in häuslicher Umgebung auf, die etwa einen Brief lesend oder Milch einschenkend abgebildet sind. Die für den Künstler außergewöhnliche Motivwahl sowie die Tatsache, dass zu diesem Werk ein Pendant existiert, das sich im Louvre befindet und den Titel „Der Astronom“ trägt, werfen die Frage nach einem Auftraggeber auf. Da sich die männlichen Figuren in beiden Bildern sehr stark ähneln, ist eine Porträtarbeit aber auszuschließen.
Das Bild zeigt, getreu dem Titel, einen Geographen im Hausmantel, der inmitten einer allegorischen Welt der Wissenschaft, in seine Arbeit vertieft zu sein scheint. Die männliche Figur, auf die durch ein sich am vom Betrachter aus linken Bildrand befindlichen Fenster ein Sonnenstrahl fällt, bildet das Zentrum des Bildes. Das Licht scheint den Wissenschaftler buchstäblich zu erhellen und kann daher auch als Licht der Erkenntnis gedeutet werden. Zwar gibt das Bild keine eindeutige Erkenntnis preis, doch transportiert es den geschärften Geist sowie die Leidenschaft zur Wissenschaft. Diese wird hier durch verschiedene Instrumente, wie einem Zirkel, einem Winkelmaß, einem Johannisstab, der der astronomischen Winkelmessung dient oder einem Globus versinnbildlicht. Mit dem Globus hat es eine Besonderheit auf sich. Für den Betrachter nur schwer zu erkennen, hat Vermeer ihn so gedreht, dass der Indische Ozean zu sehen ist. Die Entdeckung dieses und damit die Entdeckung Amerikas durch Christopher Columbus im Jahre 1492 war und ist ein Highlight in der geographischen Forschung und deshalb von Vermeer hier in einem kleinen versteckten Detail noch einmal aufgegriffen. Darüber hinaus war die Niederlande im 17. Jahrhundert führend in der Herstellung von Globen. Neben dem Globus verweisen aber auch die Karten auf dem Tisch und an der Wand zum einem auf wissenschaftliches Tun und zu anderen auf den Zeitgeist der Niederlande im 17. Jahrhundert. Denn im Zuge des sogenannten „goldenen Zeitalters“, in dem sich die Niederlande von der Fremdherrschaft Spaniens befreite, erfuhr sie eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte, zu der auch der Anstieg am Interesse an der Wissenschaft und ihrer Bedeutung zählte.
Der Gesamteindruck des Interieur lässt auf einen gehobenen Stand des Geographen schließen. Hinzukommt, dass die Draperie sowie der Hocker im Bildvordergrund eine Barriere zum Betrachter bilden, die subtil darauf hinweist, dass das Bild lediglich für einen eingeweihten, intellektuellen Kennerkreis zu verstehen war, in dem auch der mögliche Auftraggeber oder Käufer anzusiedeln ist.
Jan Vermeer - Der Geograf
Öl auf Leinwand, 1669, 51,6 x 45,4 cm , Städel in Frankfurt
Comments