von Dr. Stefanie Meier-Kaftan
Mitten im Dschungel, die Bäume biegen sich und die Blätter und Pflanzen rascheln im starken Wind. Ein Gewitter ist aufgezogen. Der dunkle Himmel wird durch die grellen Blitze kurzeitig erleuchtet, ansonsten ist der Himmel verdunkelt und der Regen fällt in Strömen. Der französische Maler Henri Rousseau (1844-1910) hat diese Unwetter-Stimmung in seinem Bild eindrücklich festgehalten. Der Künstler führt den Betrachter tief in den Dschungel. Dort findet sich auch vom Gewitter aufgeschreckt ein Tiger, der duckend zwischen dichtem Wald Schutz sucht. Mit weit aufgerissenen Augen und dem leicht geöffneten Maul sowie der gebückten Haltung wirkt der Tiger eher verängstigt als Angst einflößend.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass aufgrund der fast kindlichen Malweise des Künstlers der Betrachter einen falschen Eindruck gewinnt. Denn – ach du Schreck – der Tiger ist womöglich auf Beutejagd und diese befindet sich außerhalb des Blickfeldes bzw. Bildrands. Denn auch bei der Jagd nehmen Tiger eine geduckte Haltung an, der Körper ist dabei ebenfalls angespannt um womöglich gleich zum Sprung auf das Opfer anzusetzen. Genau diese Doppeldeutigkeit könnte die Absicht des Künstlers gewesen sein und macht das Bild umso spannender. Einerseits wurde Henri Rousseau zu seinen Lebzeiten für seine besondere Malweise mitunter verspottet, andererseits von bekannten Zeitgenossen wie bspw. Paul Gauguin und Pablo Picasso geschätzt. Er verfügte über keine künstlerische Ausbildung als er sich etwa ab seinem 40. Lebensjahr ganz der Malerei widmete. Daher wurde er auch als „Sonntagsmaler“ bezeichnet, also ein Laienmaler der aus einem anderen beruflichen Umfeld stammt und sich Maltechniken und sein Kunstwissen autodidaktisch angeeignet hat. Dadurch fehlte ihm beispielsweise auch Wissen über Perspektive wodurch seine Bilder wenig tiefgründig und dreidimensional wirken. Nichtsdestotrotz gilt Henri Rousseau heutzutage als Pionier der naiven Kunst und seine spezielle Technik wird als Zeichen seiner authentischen Darstellungsweise gesehen.
Das Bild selbst gilt als eines der ersten von rund 20 Dschungel-Darstellungen. Es hat etwas Exotisches obwohl die Ideen imaginären Ursprungs sind denn Rousseau selbst hat Frankreich vermutlich nie verlassen. Als Vorlagen für die Pflanzen und Bäume dienten ihm Zimmerpflanzen und Pflanzen aus dem botanischen Garten, dem „Jardin des Plantes“ in Paris. Dort gab es auch exotische Tierarten und so ist denkbar, dass diese ihm als Vorlage für die Tigerdarstellung dienten. Zudem orientierte er sich auch an ausgestopften Tieren, die es unter anderem auf der 1889 stattfindenden Weltausstellung in Paris gab. Seine Malweise wirkt, als wären die einzelnen Elemente in mehreren Schichten übereinander gelegt worden. Dabei erscheint der Tiger jedoch wie nachträglich zugefügt, fast in der Luft schwebend. Dies könnte daran liegen, dass Henri Rousseau für seine Arbeiten einen sogenannten Pantographen nutzte. Hierbei handelt es sich um ein mechanisches Präzisionsinstrument für das Übereinanderlegen von Zeichnungen im gleichen, kleineren oder größeren Maßstab. Auch den Regen stellt er auf eigentümliche Weise als eine Mischung aus halb durchsichtigen und halb silber-grauen Streifen dar. Es sind höchstwahrscheinlich diese unterschiedlichen Elemente und die sehr eigenwillige Malweise des Künstlers, die den Betrachter dennoch immer wieder in den Bann ziehen.
Henri Rousseau - Surprised!
Öl auf Leinwand, 1891, 129,8 x 161,9 cm, National Gallery, London