von Alexandra Tuschka
Der Weg ist hier zu Ende. Wie ein Feldherr, der eine Flagge in die eroberte Erde steckt, stellt der Mann stolz seinen Fuß auf den Felsen. Er hat seine Hand in die Seite gestützt; der Wanderstab, der ihm bis hierher ein treuer Begleiter war, ruht sich zu seiner rechten aus. Vor dem Mann liegt ein bewegtes Naturschauspiel.
Der Nebel, der im unteren Bildgrund die Formen umspielt, wirkt vom Wind gepeitscht; nur die besonders hohen Felsen ragen aus dem dichten Weiß hervor. Im Hintergrund sind weiche Berge zu erkennen - auch sie teilweise überdeckt vom Nebelschleier. Der rechte Felsen wurde als der Zirkelstein identifiziert, der sich in der sächsischen Schweiz befindet. Die Felsengruppe in der Mitte stellt den Gamrig bei Rathen dar und der Fels, auf dem der Wanderer steht, entstammt der Kaiserkrone. Über die anderen herrscht Uneinigkeit. Friedrich kombinierte die verschiedenen Elemente zu einer Gesamtkomposition.
Der Wanderer ist von hinten zu sehen und hat keine eigene Identität. Wie so oft bei Friedrich lädt diese Figur den Betrachter ein, durch seine Augen zu blicken, er dient ihm als Identifikationsfigur. Und doch ist dieses Gemälde besonders bemerkenswert, denn der Mann ordnet sich der Natur hier nicht unter; er tritt nicht etwa zur Seite, um uns Platz zu machen, das Naturspektakel zu beobachten. Nein, er stellt sich aufrecht in die Bildmitte und nimmt uns sogar ein wenig die Sicht.
Links steht die Sonne am Himmel und oben ziehen langsam Wolken vorbei. Der Mann steht wie eine unbewegte Statue zwischen den Sphären – und das auch im übertragenen Sinne. Die Sonne kann als aufgehende Hoffnung interpretiert werden, der Nebel als Undurchsichtigkeit des Schicksals und als Unsicherheit des Kommenden. Er verknüpft die reale und die seelische Welt.
Auf der Gipfelspitze, die als Dreieckskomposition ins Bild ragt, hat der Wanderer ein wenig Abstand zum Geschehen. Und durch seine Augen erhaschen auch wir eine Ahnung von dem ewigen Kreislauf der Natur.
Caspar David Friedrich - Wanderer über dem Nebelmeer
Öl auf Leinwand, 1818, 98,4 cm × 74,8 cm, Hamburger Kunsthalle in Hamburg