von Alexandra Tuschka
Eine dunkle, große Gestalt erhebt sich über einer Landschaft. Im Vergleich zu den Figuren im Vordergrund ist er in seiner Dimension riesenhaft und bedrohlich. Wir können den bärtigen Mann jedoch nur von schräg hinten sehen. Sein muskulöser Oberkörper liegt frei und wagen wir einen Blick durch die nebligen Wolken, können wir auch sein nacktes Hinterteil erspähen. Das Gesicht ist im Profil noch gut zu erkennen, es wird von links hell erleuchtet. Der Mann hat den rechten Arm angewinkelt und die Faust geballt — sein Körper erscheint angespannt, sicher ist er wütend.
Das Bild wurde vom Künstler durch drei große Horizontale gegliedert. Oben, im dunklen Himmel erscheint der Kopf des Riesen besonders konstrastreich. Dies wird dadurch verstärkt, dass er die Umrisse der vollen Locken des Mannes fast verschluckt. In der Mitte befindet sich eine hellere Himmelsschicht. Sie vermittelt uns das Bild schlierender Wolken in nebeliger Atmosphäre. Ganz unten im Vordergrund zeigt sich eine ganz weltliche Sphäre. Hier geht die Angst vor der mächtigen Erscheinung um: Menschen und Tiere wirbeln durcheinander, wir können Planwagen, eine Ochsenherde und Menschenmassen erkennen. Sie eilen durcheinander, ein Mann ist vom Pferd gefallen, eine Frau im Vordergrund gestürzt. Nur ein Esel, seit jeher ein Zeichen für Dummheit, steht unbeirrt am vorderen Bildgrund.
Jahrelang galt dieses Bild als eines der Hauptwerke Goyas, als das Aushängeschild für die „pinturas negras“ – die schwarzen Bilder, welche die Wohnräume des Spaniers schmückten. Dies müssen wir jedoch überdenken! Neue Forschungsergebnisse des Prado ergaben, dass hier wohl eher ein Nachfolger Goyas am Werk war. So seien Technik und Pinselstrich zu unsicher. Die grellen Farben der kleinen Figuren und die dumpfe Beleuchtung beider Ebenen sprächen nicht für Goyas typische Malweise. Die Signatur in der linken Ecke „A.J.“ sei eher mit Asensio Juliá in Verbindung zu bringen. Nie gehört? Er war ein Freund und gelegentlicher Mitarbeiter Goyas, der postum jedoch kaum in Erinnerung geblieben ist.
Wer auch immer Urheber des Werkes war, es lässt sich ohne Mühe mit anderen Werken Goyas in Verbindung bringen. So schuf dieser eine Reihe von Radierungen zu dem Thema „Die Schrecken des Krieges“, in denen er den Freiheitskampf der Spanier gegen die französische Besatzungsmacht 1808-1813 thematisierte. Der Stich «Das ist schlimmer» zeigt eine ganz ähnlich aussehende Figur in der Bildmitte. Dieser wurden offenbar die Arme abgetrennt und in diesem Zustand auf einem Baum abgesetzt. Im Hintergrund finden wir französische Soldaten in Uniform. Eine hebt das Schwert — zielt er auf das Bein des Mannes? Goya wählt schon durch den Titel eine wenig heroische Sicht auf das Kriegsgeschehen. Sein Augenmerk liegt nicht auf der Verherrlichung des Geschehens, sondern auf der grausamen Darstellung der Realität. Damit zählt es zu den ersten «Antikriegsbildern» in der Kunstgeschichte. Solche Bilder kamen erstmals im Barock auf, als man sich kritischer mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzte. So wurde auch das Bild «Der Koloss» unterschiedlich interpretiert: ist hier eine Anspielung auf Napoleon gemeint – die Bedrohung am Horizont? Oder steht der Koloss nicht viel eher für den Kampfgeist, der sich gegen die französischen Unterdrücker einen Weg bahnt?
Francisco Goya y Lucientes (Nachfolge) - Der Koloss
Öl auf Leinwand, 1818 - 1825, 116 x 105 cm, Museo del Prado in Madrid
"Dies ist schlimmer"
Platte 37 von "Den Schrecken des Krieges", 1810-1814