von Alexandra Tuschka
Über seinen Gedanken ist ein Mann auf einem Podest eingeschlafen. Der Stift ist aus der müden Hand gefallen und nun erkennen wir nur den Haarschopf, der sich über die verschränkten Arme gelegt hat. Das gepflegte Kostüm ist gut sichtbar und lässt vermuten, dass der Dargestellte zur höheren Bürgerschicht gehört. Die Körperhaltung sieht allerdings nicht wirklich gemütlich aus. Oft wird hier in diesem Mann sogar ein Selbstportrait vermutet. Nun aber schläft der Protagonist, und mit ihm die Vernunft, wie der Titel des Blattes uns verrät, der nach der Inschrift links benannt ist. Das ist das Einfallstor für allerlei gruselige Kreaturen, die meisten von ihnen sind Eulen oder Fledermäuse. Unten rechts sitzt zudem eine Katze oder Wildkatze. Die vorderen Tiere sind erleuchtet, die hinteren Tiere sind abstrahierter und mit gröberen Strichen angedeutet.
Dieses Blatt ist das bekannteste aus einer Reihe von 80 Drucken, die Goya "Los Caprichos" taufte. Die Reihe zeigt Goyas kritischen Blick auf Aberglaube, Missstände und moralische Verwerflichkeit seiner Zeit. Hier ist es das Blatt mit der Nummer 43. Es besticht durch den Unterschied zu den anderen Blättern, da hier der Titel ins Bild integriert wurde und nicht, wie bei allen anderen Drucken, unten drunter steht. Das Capricho 43 nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Serie ein. "Capriccio" wird im Italienischen für Architekturphantasien verwendet und ist ein feststehender kunstgeschichtlicher Begriff; in dieser spanischen Variante ist die Übersetzung etwas freier mit "Launen, Spielereien". Aber es gibt Interpretationsspielraum: "el sueno" kann sowohl mit "Traum" als auch mit "Schlaf" übersetzt werden. Während es naherliegender ist, dass die Vernunft eher "schläft" als "träumt" und meistens so übersetzt wird, würde die Traumwelt doch allerlei Interpretationen eröffnen, die das Irrationale, Surrealistische und Unbewusste integrieren.
Die Fledermäuse, Eulen und Katzen, die üblicherweise als Symbole für Nacht und Finsternis verwendet werden, werden hier als bedrohliche Kreaturen dargestellt, die die „Schlafenden“ heimsuchen und die Schattenseite der menschlichen Natur darstellen. Die Eulen, normalerweise mit Weisheit und Ruhe assoziiert, werden zur Verkörperung von Wahnsinn und Chaos. Eine hat sich gar den Stift gekrallt und scheint den Schlafenden zum Schreiben animieren zu wollen. In diesem Sinne kritisiert Goya den Aberglauben und die moralische Verkommenheit, die er als Folgen mangelnder Vernunft und Bildung sieht. Die Szene wirkt wie ein Kommentar zur Aufklärung, die die Vernunft als wichtigstes Instrument gegen Aberglauben und Despotismus betrachtete. Goya zeigt, dass, ohne die Führung der Vernunft, die Gesellschaft in Dunkelheit und Unordnung verfällt.
Francisco Goya - Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Aquatinta-Radierung, um 1797-1799, 21,6 × 15,2 cm, Museo del Prado, Madrid