von Claire Deuticke
Der aus Osnabrück stammende jüdische Künstler Felix Nussbaum malte das „Selbstbildnis mit Judenpass“ im Jahr 1943, zur Zeit der Besetzung Belgiens durch die Nationalsozialisten, in seinem Brüsseler Versteck. Es gehört zu einem seiner letzten Werke – im Jahre 1944 wird Felix Nussbaum nach Ausschwitz deportiert, wo er kurze Zeit später umkommt.
Das Werk zeigt ihn in der vorderen Bildhälfte platziert, er nimmt in etwa zwei Drittel des Bildes ein und präsentiert sich dem Betrachter im Dreiviertelprofil. Er trägt einen beigefarbenen Mantel, dessen Kragen er mit seiner rechten Hand rafft, um den auf dem Mantel angebrachten gelbfarbenen Judenstern erkennbar zu machen. In seiner linken Hand hält er seinen Judenpass, auf dem deutlich sichtbar, in dicken roten Buchstaben, das Wort Juif – Jood (Jude) prangt. Es handelt sich um den Gestus des sich Ausweisens, einer Situation, der Juden unter dem nationalsozialistischen Regime täglich ausgeliefert waren, eine Situation, die über Leben und Tod entscheiden konnte. Felix Nussbaum fixiert den Betrachter mit einem eindringlichen, beinahe provozierenden, Blick. Der Betrachter nimmt automatisch die Rolle des Gegenübers, des Kontrollierenden ein und wird so ein Teil der dargestellten Situation.
Er wird bewusst in die Machtposition eines Denunzianten versetzt, der die Verantwortung über Leben und Tod besitzt und vor eine Entscheidung gestellt wird. So entzieht sich Felix Nussbaum bewusst der Opferrolle: Es ist nicht er, der in die Enge getrieben und angeklagt wird, sondern der Betrachter, der in seiner Rolle als Kontrolleur mitverantwortlich für das Leid der Juden ist. Auf seinem Kopf trägt er einen Hut – wohlbemerkt keine jüdische Kopfbedeckung, sondern einen der Alltagskleidung eines im 20. Jahrhundert lebenden Mannes entsprechenden Hut. Abgesehen von Judenpass und Judenstern stellt sich Felix Nussbaum hier als ein ganz normaler Bürger da. Womöglich unterscheidet ihn außer der jüdischen Zwangskennzeichen nicht viel von seinem Gegenüber. Im Hintergrund überragt eine massive graue Wand den am vorderen Bildrand platzierten Felix Nussbaum. Die Mauer verdeutlicht die ausweglose Situation, in der er sich befindet. Weglaufen ist vergeblich, es ist beinahe wie eine Gefängnismauer, die ihn in dieser Situation einsperrt. Die Darstellung kann als ein Hinweis auf seine Lebenssituation im Exil gedeutet werden, in der Felix Nussbaum gefangen war, fern von seiner Heimat, fern von seiner Familie, ein Leben in Verfolgung und Angst.
Hinter der Mauer ragt ein abgekappter Baum mit kahlen Ästen hervor. Neben dem beschnittenen Baum befindet sich ein weiterer Baum – mit weißen Blüten. Felix Nussbaum spielt ganz bewusst mit Gegensatzpaaren wie diesem, um die einerseits angsterfüllte, ausweglose, aber andererseits auch hoffnungsvolle, sehnsuchtserfüllte, nach Freiheit strebende Situation, in der sich zahlreiche Juden befanden, zu verdeutlichen. Hin- und hergerissen zwischen Angst und Hoffnung, Todesgewissheit und Lebenslust. Ein Seelenleben, das er mit zahlreichen Juden teilte, ein Seelenleben, dem er stellvertretend für seine Mitleidenden Ausdruck verlieh. Das Werk geht somit über den selbstreferentiellen Charakter eines Selbstporträts hinaus. Vielmehr ist es ein historisches Zeugnis über das Leben eines unter Verfolgung leidenden Juden und steht stellvertretend für alle Verfolgten. Die Fähigkeit des Werkes, den Betrachter in die Machtposition des Kontrolleurs zu versetzen und ihn so dazu anzuregen, die eigene Haltung zu hinterfragen, macht es insbesondere in der Erinnerungskultur der Shoah zu einem unvergleichbaren Werk.
Felix Nussbaum - Selbstbildnis mit Judenpass
Öl auf Leinwand, 56 x 49 cm, Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück