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Claude Monet - La Gare Saint-Lazare

von Carina Stegerwald


„Unsere Künstler müssen die Poesie der Bahnhöfe finden, wie ihre Väter diejenige der Wälder und Flüsse gefunden haben.“[1] (aus dem Roman Bestie Mensch von Émile Zola, 1890)


Claude Monet widmete sich im Frühjahr 1877 eben jener Suche und malte innerhalb von vier Monaten zwölf Gemälde, welche unter dem Titel La Gare Saint-Lazare bekannt sind und als Portrait des gleichnamigen Pariser Bahnhofs gesehen werden können. Dabei handelt es sich um die einzige Phase in Monets Schaffen, in der er sich intensiv auf einen Ort konzentrierte und in solch kurzer Zeit so produktiv war. Nachdem Monet die Jahre zuvor etwas außerhalb von Paris in Argenteuil gelebt und sich zuletzt fast ausschließlich mit pastoralen, idyllischen Szenen beschäftigt hatte, zog er im Januar 1877 in die Hauptstadt zurück. Dort entschied er sich für ein radikal modernes, urbanes Thema und begann – als er die Erlaubnis erhalten hatte, dort zu malen – mit seinem neuen Projekt im Gare Saint-Lazare. Interessanterweise – und für ihn eher ungewöhnlich – vollendete Monet seine Werke jedoch nicht vor Ort. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass er aufgrund der Behinderungen durch den Verkehr im Gare Saint-Lazare nicht die Zeit dazu hatte.[2]


Die zwölf Bilder, welche im und um den Bahnhof entstanden, weisen sehr unterschiedliche Maße auf, wobei ihnen jedoch das querrechteckige Format gemeinsam ist. Während einige der Gemälde einen starken Skizzencharakter haben, wirken andere ausgereifter. Im Folgenden soll das von Monet aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst gemalte Bild La Gare Saint-Lazare, das sich heute im Musée d’Orsay in Paris befindet, genauer betrachtet werden.

Im Vordergrund des Bildes, dessen Horizont sich ungefähr auf Höhe des unteren Drittels befindet, ist das Innere der Bahnhofshalle zu sehen. Die Gleise sind teilweise nur zu erahnen und auch die Züge und Lokomotiven lassen sich nicht unbedingt auf den ersten Blick eindeutig identifizieren. Vermutlich handelt es sich mittig um eine Lokomotive, die gerade vom Zug abgekoppelt und auf einer Drehscheibe gewendet wurde. Die dazugehörigen Waggons sind links zu verorten, wobei für den Betrachter nur der erste zu erkennen ist. Auf der rechten Seite stehen neben den Schienen einige Personen, die jedoch kaum ausgearbeitet und daher nicht genauer zu charakterisieren sind. Auffällig ist in jedem Fall die unterschiedliche Kleidung, da wenige der Figuren braun und die anderen überwiegend blau-grünlich angezogen sind. Aus diesem Grund liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der einen Gruppe nahe der Gleise um Bahnarbeiter und bei der anderen um Reisende handelt. Eingerahmt wird die gesamte Szenerie im Bahnhof von einem großen Eisen-Glas-Dach, welches den oberen Teil des Bildes dominiert, sowie dem fast gotisch anmutenden Flechtwerk links und den dünnen Säulen rechts. Der Mittelgrund ist von Dampfschwaden – besonders prominent ist die mittig platzierte Rauchwolke der Lokomotive – und infolgedessen von einer gewissen Unschärfe geprägt. Letztere leitet zum Hintergrund über, wo die Pont de l’Europe und einige Häuserblocks zu sehen sind. Der Betrachter hat es nun zunehmend schwerer, Details zu erkennen. Monet wollte damit womöglich die durch Ruß und Dampf eingetrübte Sicht verdeutlichen. Links sind einige hohe Häuser abgebildet, wodurch die freie Sicht auf den Himmel versperrt ist. Ganz rechts wird das Bild durch weitere, gleichwohl niedrigere Häuser abgeschlossen.[3]

Zusammen mit dem Gemälde La Gare Saint-Lazare, arrivée d’un train – heute in den Harvard Art Museums – hat jenes Werk die am meisten ausgereifte Ansicht der Serie, welche zudem die größte Symmetrie oder Ausgewogenheit im traditionellen Sinne aufweist. Den oberen Abschluss des Gemäldes bildet das monumentale Dach, welches genau in der Mitte positioniert ist und als Dreieck die Komposition prägt; bemerkenswert ist zudem die Verwendung des Goldenen Schnittes. Im Gemälde La Gare Saint-Lazare aus dem Musée d’Orsay befindet sich darüber hinaus die Spitze des Daches exakt auf der Symmetrieachse des Gemäldes und das Format von 75 x 100 cm entspricht einem Verhältnis von 3:4. Auch den Bildausschnitt hat Monet sorgsam gewählt; das Motiv des Dreiecks in Form des Giebels ist oberhalb sowie an den Seiten relativ knapp beschnitten, wodurch die Szene beinahe wie herangezoomt wirkt.[4]


Da die Thematik der Lokomotiven, Züge und Bahnhöfe im Jahr 1877 noch auf keine lange ikonografische Tradition zurückgreifen kann, hatte Monet nur wenige potenzielle Vorbilder als Orientierung zur Verfügung. Zu den Künstlern, die sich bereits vor ihm mit dem Sujet beschäftigt hatten, zählen William Turner sowie andere Impressionisten wie Pissarro, Sisley und Manet. Turners Bild Regen, Dampf und Geschwindigkeit von 1844 ist dabei das erste Werk, welches ein für die damalige Zeit so ungewöhnliches Motiv thematisierte, wobei der Schwerpunkt vor allem auf der Darstellung der Geschwindigkeit und der Dynamik lag, die durch die asymmetrische Komposition unterstrichen wurde. Wenngleich das Gemälde – gerade auf die atmosphärische Stimmung bezogen – denen von Monet recht nahe kommt, wird hier die Eisenbahn lediglich „als eine Erscheinungsform der Landschaft“[5] gezeigt.


Um die Bahnhofsserie und deren Bedeutung verstehen zu können, ist es wichtig einen Blick auf die gesellschaftlichen, kulturellen sowie städtebaulichen Entwicklungen jener Zeit zu werfen. Gerade ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in Paris – vor allem bezüglich des architektonischen Bildes der Stadt – wichtige Veränderungen festzustellen. Zudem etablierte sich auch die Weltausstellung, die in den Jahren 1867, 1878, 1889 und 1900 in Paris stattfand, als bedeutende Institution, deren Vorbereitungen die Stadt prägten. Daneben spielte nun Eisen eine große Rolle in der Architektur. Dieses Material benutzten die Ingenieure im Zusammenspiel mit Glas zunehmend für überdachte Markthallen, Geschäfte, Fabriken, Ausstellungsgebäude und Bahnhöfe; letztere erhielten einen repräsentativeren Charakter und wurden in das Stadtbild integriert. Als weiterer zentraler Aspekt ist zu erwähnen, dass Bahnhöfe gerade für die impressionistischen Maler eine wichtige Rolle spielten. Einerseits fanden gemeinsame Treffen häufig im Pariser Stadtviertel Batignolles statt, an welchem viele Züge vorbeifuhren, so dass den Künstlern Bahn und Gleise überaus vertraut waren. Andererseits konnten sie von den Bahnhöfen – insbesondere vom Gare Saint-Lazare – jene für sie relevanten Orte außerhalb von Paris erreichen. Des Weiteren war der Bahnhof nicht nur Ausgangspunkt für Ausflüge in die Umgebung, sondern ebenso Zwischenstation im Alltag, da viele der Maler in den Vorstädten lebten und häufig ins Zentrum von Paris fuhren. Somit wählte Monet – vor allem im Vergleich zu William Turner – ein Motiv und eine Darstellungsweise, welche dem täglichen Leben näher war.[6]


Zum Verständnis von Monets La Gare Saint-Lazare-Bildern stellen schließlich auch die zeitgenössischen Einschätzungen einen zentralen Aspekt dar. So assoziierte beispielsweise Georges Rivière, der Herausgeber der Zeitschrift L’impressionniste, mit der Serie „die Rufe der Bahnarbeiter, das Schrillen der Dampfpfeifen, das Getöse der Ankunft und Abreise, das Beben des Bodens unter den großen Rädern und das dramatische Verschmelzen von Sonne, Ruß, Rauch und Dampf“[7]. Eben diese „Synäthesie, die Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen“[8] fiel sogar Monets Kritikern auf, womit sie ihm dies – womöglich unbewusst – als Leistung anrechneten. Auch wenn dem heutigen Betrachter die Geräusche und Gerüche eines Bahnhofs im 19. Jahrhundert nicht auf dieselbe Weise vertraut sind wie Monets Zeitgenossen, lässt sich dennoch die damalige Atmosphäre erahnen. Gerade die impressionistische Malweise führt dazu, dass wir uns wie in das Bild hineingezogen fühlen und die Szene förmlich fühlen, riechen und hören können.


Zudem war es wohl der sich ständig verändernde Effekt, der Monet so faszinierte. Das Schauspiel von sich bildenden, dunklen Rauchwolken, die sich langsam wieder dem Betrachter entziehen, wiederholt sich unentwegt. Je nach Lichteinfall wirken die Wolken heller oder dunkler und nehmen ständig neue Formen an. Im Gegensatz zu diesen immateriellen, flüchtigen Abbildungen stehen die starren Glas- und Eisenkonstruktionen des Bahnhofs. Auf diese Weise findet eine Gegenüberstellung von organischen und tektonischen Komponenten statt. Monet suchte die durch den modernen Bau bereits vorgegebenen Linien und klaren Strukturen, füllte sie mit Dampf und einfallendem Sonnenlicht und gab ihnen auf diese Weise eine Räumlichkeit. Ein bemerkenswerter Aspekt ist hierbei, dass sich die Atmosphäre, welche die Gemälde in großem Maße prägt, kaum von jener in Monets Landschaftsbildern unterscheidet. In diesem Kontext äußerte Rivière, dass er von den Bahnhofsszenen ebenso ergriffen war wie bei der Betrachtung der Natur.[9]


Letztlich stellte Monet mit seiner La Gare Saint-Lazare-Serie als einer der ersten die neuartige technische Erfindung der Eisenbahn, die starre und kühle Architektur des Bahnhofs sowie die Anonymität des schnellen Großstadtlebens von einer sehr subjektiven, individuellen und fast idyllischen Sicht dar. Gleichzeitig wird hier so viel mehr ausgedrückt: das Lebensgefühl der Zeit, die Atmosphäre des Bahnhofs und die Faszination Monets gegenüber diesen Geschehnissen. Somit hatte Claude Monet die Idylle, welche die Maler der Schule von Barbizon zuvor in der einsamen Natur auf dem Land suchten, am Ende tatsächlich auf seine Weise ebenso in der Stadt gefunden.


[1] Santorius, Nerina: Die Entschleunigung des Blicks. Claude Monets ‚Außerhalb des Bahnhofs Saint-Lazare (Das Signal)‘. In: Krämer, Felix: Monet und die Geburt des Impressionismus. Ausstellungskatalog. München; London; New York 2015, S. 197. [2] Vgl. Bareau, Juliet Wilson: Manet, Monet, and the Gare Saint-Lazare. New Haven 1998, S. 105; Wildenstein, Daniel: Monet. Monet oder der Triumph des Impressionismus. Bd. 1. Köln 1996, S. 125. [3] Vgl. Bareau 1998, S. 111; Tucker, Paul Hayes: Claude Monet. Life and art. New Haven (u.a.) 1995, S. 96. [4] Vgl. Tucker 1995, S. 96. [5] Seitz, William Chapin: Claude Monet. Neuaufl. Köln 1979, S. 106. [6] Vgl. Mathieu, Caroline: Die Moderne Stadt. Paris 1850-1900. In: Fischer, Hartwig; Cachin, Françoise; Gianfreda, Sandra: Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris. Ausstellungskatalog. Göttingen 2010, ­­­S. 30; Wildenstein 1996, S. 125; Seitz 1979, S. 106. [7] Seitz 1979, S. 106. [8] Wildenstein 1996, S. 126. [9] Vgl. Heinrich, Christoph: Claude Monet. 1840-1926. Köln 2007, S. 41; Seitz 1979, S. 106. .

Claude Monet- La Gare Saint-Lazare

1877, Öl auf Leinwand, 75 x 100 cm, Musée d’Orsay, Paris


Claude Monet - La Gare Saint-Lazare, arrivée d’un train

1877, Öl auf Leinwand, 82 x 101 cm, Harvard Art Museums, Cambridge


William Turner- Regen, Dampf und Geschwindigkeit

1844, Öl auf Leinwand, 91 x 121,8 cm, National Gallery, London


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