von Helen Bremm
Was auf den ersten Blick wie ein wirres Konzept aus ausdrucksstarken Linien und Farben erscheint, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Landschaft. 1944 verbrachte der armenisch-amerikanische Künstler Arshile Gorky viel Zeit in Hamilton, Virginia, und wurde von der lokalen ländlichen Umgebung inspiriert.
Obwohl die Farben und Formen auf einer weißen Fläche frei zu schweben scheinen, deutet die Leere am oberen Bildrand doch einen Horizont und Himmel an. Die großen roten und senfgelben Flecken am unteren Bildrand erzeugen ein Gefühl von Bildtiefe und Gravitation. Links ist ein großes vierbeiniges Tier zu sehen – eine Kuh. Rechts bewegen sich menschliche und organische Figuren. Die Farben sind warm und aus der Natur gewählt.
Das Werk wirkt spontan und expressiv. Tatsächlich machte der Künstler aber viele Vorstudien und Zeichnungen zu diesem Gemälde und legte die Komposition und Farben vorher genau fest. Typisch für den amerikanischen abstrakten Expressionismus , dem Gorky angehörte, ist, dass die Linien von ihrer beschreibenden Funktion befreit werden und von den Farbflecken gelöst sind. Traditionell füllte Farbe die von den Linien begrenzte Form. Hier sind alle Bildelemente gleichberechtigt und haben eine autonome Aussage und Ausdruckskraft.
Gorky gilt als der letzte Surrealist und erster abstrakter Expressionist. Auch in diesem Werk sieht man den Einfluss von beispielsweise Joan Miró, in den freischwebenden symbolhaften schwarzen Formen. Es hat eine mystische und spirituelle Qualität. Inspiriert wurde Gorky auch von der Methode des Automatismus: Die surrealistischen Maler*innen vor ihm strebten das Malen aus dem Unterbewusstsein und eine Überbrückung von Rationalität und Intention an. In der Praxis stand dies oft im Widerspruch zu dem angemerkten akribischen Planen der Kompositionen.
Dieses Werk ohne Titel stammt aus der Phase, für die Gorky am bekanntesten wurde – die Phase, in der er seine abstrakten, mystisch, und surrealistisch-expressiven Gemälde mit amorphen und organischen Formen schuf.
Arshile Gorky - Untitled
Öl auf Leinwand, 1944, 167 x 178.2 cm, Sammlung Peggy Guggenheim in New York