von Alexandra Tuschka
Da muss man wirklich genauer hinsehen! Und tatsächlich – da schwimmt im Urin der jungen Frau ein kleiner Mensch. Keusch war sie nicht und hier ist der lebende Beweis. Die Frau beginnt zu weinen — ein Kind kann sie nicht gebrauchen. Vermutlich ist sie nicht einmal verheiratet. Der Vater bekommt schon rote Wangen und haut auf den Tisch. Nur der kleine Junge, womöglich ihr Bruder scheint Spaß zu haben und zeigt uns die „Feige“. Der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt war seinerzeit eine obszöne Geste, die für den Geschlechtsakt stand. Die daneben befindliche Stuhllehne erinnert unweigerlich an einen Penis und auch die Klistierspritze (für Einläufe verwendet) macht auch dem letzten Betrachter klar, was für ein Bildthema wir hier vorfinden. Zudem verweist der unseriöse Arzt mit seiner linken Hand zu einem offenen Korb: «Das hast du nun davon» scheint er damit zum Ausdruck zu bringen.
Unter allen Diagnoseverfahren, die man im 16. Jahrhundert anwendete, war die Urinschau die am meisten verbreitete. Leider öffnete sie auch Quacksalbern Tür und Tor, denn bei Betrachtung des Urins konnte man vieles behaupten. Das Bildthema nennt sich auch „piskijker“ und macht deutlich, dass sich ein gewisses Amüsement beim Publikum über diese Methode breit gemacht hat. Es war übrigens nichts ungewöhnliches, wenn der Arzt auch den Urin seiner Patienten auf den Geschmack untersuchte.
Auch dieser Arzt scheint nicht ganz seriös zu sein. Seine leicht geöffnete Mundhöhle enttarnt einige fehlende Zähne; sein Hut ist ihm schon vom Netzhäubchen gerutscht und auch zeigt sich ein Riss im Ärmel. Scheinbar ist er auch kurzsichtig. Mit einem starren Blick führt er das Uringlas so nah an sein Gesicht, dass er das darin befindliche Männlein gut erkennen kann. Eine gewisse Schadenfreude scheint sich bei ihm auszubreiten. Im Hintergrund sehen wir einige Utensilien. Wenngleich der Titel auch unter „die ärztliche Visite“ bekannt ist, und somit angenommen wird, der Arzt besuche hier seine Patientin, könnten wir uns hier doch durchaus beim Arzt in seiner Praxis befinden.
Aber wer hängt sich denn so etwas ins Wohnzimmer? Harnschau- bzw. Quacksalber-Gemälde finden wir zwischen dem 16.-18. Jahrhundert gehäuft auf den Bildträgern – hier fast ausschließlich in den Niederlanden. Für dieses Phänomen lassen sich viele Gründe ausmachen. Das „goldene Zeitalter“ der Niederlande brach an. Durch Handel entstand eine ganz neue Bevölkerungsschicht – Kaufleute und Händler, die nach einer neuen Identität strebten. Diese stärkten sie unter anderem dadurch, dass sie sich von den unteren Schichten abgrenzten. So entstanden hunderte von Bildern über das Bauern- und Bürgerschichtsmilieu, die sich über die Einfachheit und auch Dummheit dieser lustig machten. Der Glaube, bei reiner Betrachtung des Urins zu erkennen, ob eine Dame keusch gelebt hat oder nicht, mag dem aufgeklärtem Zeitgenossen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben. Zudem war im Zeitalter des Barock die Darstellung von starken Effekten und Emotionen en vouge, die man in Darstellungen von schmerzvolleren Behandlungen noch weiter ausbauen konnte.
Godfried Schalcken - Die ärztliche Untersuchung
Öl auf Leinwand, 1680, 35 x 28,5 cm, Mauritshuis in Den Haag